Sehr geehrte Nutzer*innen,
die Deutsche Gesellschaft für Medizinische Informatik, Biometrie und Epidemiologie (GMDS) e.V. nimmt Abschied von Prof. Dr. med. Wolfgang Giere, einem der herausragenden Mitbegründer und Gestalter der Medizinischen Informatik in Deutschland. Geboren am 3. Februar 1936 in Königsberg, prägte er über Jahrzehnte die Entwicklung unseres Faches mit außergewöhnlicher Weitsicht und Innovationskraft.
Am 8. Mai 2025 ist Wolfgang Giere im Alter von 89 Jahren gestorben.
 © Erich Dittmann FAZ/Frankfurter Gesichter
Nach dem Besuch eines humanistischen Gymnasiums und einem einjährigen „Studium Generale“ am Leibniz Kolleg der Universität Tübingen studierte Wolfgang Giere Medizin in Tübingen, München, Montpellier und Marseille. Seine wissenschaftliche Laufbahn begann mit einer Doktorarbeit über Leben und Werk des Pharmakologen und Nobelpreisträgers Otto Loewi. Als Assistent in der Nuklearmedizin am Evangelischen Krankenhaus Bethesda in Duisburg entdeckte er seine Leidenschaft für die Elektronische Datenverarbeitung zur Unterstützung ärztlicher Arbeit. Bereits 1968 führte er dort sein Programm zur intelligenten Unterstützung der Arztbriefschreibung in die klinische Routine ein – ein Meilenstein, der eine Grundlage für seine weitere Arbeit und die spätere Entwicklung der Elektronischen Patientenakte bildet.
Seine Methoden verfeinerte Giere am Robert-Bosch-Krankenhaus in Stuttgart und danach in der Wiesbadener Deutschen Klinik für Diagnostik (DKD), insbesondere durch die Entwicklung von BAIK, einem Programmpaket zur „Befunddokumentation und Arztbriefschreibung Im Krankenhaus“. Für das 1970 begonnene Datenverarbeitungsförderungsprogramm des BMFT war Giere Sachverständiger, Gutachter und Projektverantwortlicher, insbesondere für das große DOMINIG-Programm ab 1973. Internationales Ansehen erlangte er durch seine Arbeit am MUMPS-System und durch rund 50 Publikationen, die das Feld der Medizinischen Informatik nachhaltig beeinflussten.
Wolfgang Giere leitete von 1976 bis zu seiner Emeritierung im Jahr 2003 die von ihm gegründete Abteilung für Dokumentation und Datenverarbeitung (ADD) an der Medizinischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, die er zum Zentrum der Medizinischen Informatik (ZInfo) weiterentwickelte. Mit besondere Aufmerksamkeit widmete er sich, auch als Ergebnis und Grundlage seiner DV-Projekte, der Erarbeitung medizinischer Thesauri und übernahm folgerichtig ab 1970 die Pflege des Thesaurus der GMDS-AG Klartextanalyse. Diese Arbeiten führten zur Zusammenarbeit mit dem Zentralinstitut für die kassenärztliche Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland (ZI). Des ZI beauftragte ihn schließlich 1995 mit der Leitung einer Arbeitsgruppe zur Entwicklung des ICD-10-Diagnosenthesaurus (IDT), der 1997 in einer ersten Version veröffentlicht wurde und seitdem die Ärzte bei der Diagnosenverschlüsselung unterstützt. 1999 übernahm das DIMDI die Rechte. das ab 2000 den „ICD-10-Diagnosenthesaurus“ und seit 2005, später als BfArM, das „Alphabetische Verzeichnis (Diagnosenthesaurus)“ zur ICD-10-GM herausgibt. – Giere hat ab 1993 auch wesentliche Vorarbeiten für die Entwicklung des vom DIMDI seit 1996 herausgegebenen „Operationenschlüssels nach § 301 SGB V (OPS-301)“ geleistet, der seit 2004/05 „Operationen- und Prozedurenschlüssel (OPS)“ heißt.
Gieres Wirken war geprägt von einem tiefen christlichen Glauben, einer vielseitigen Interessiertheit, Freude an der Musik und am Segeln, einer außergewöhnlichen Wissenschaftlichkeit und vom Bestreben, die Medizin durch innovative IT-Lösungen menschlicher und effizienter zu gestalten. Dabei galt sein Augenmerk auch der „Hardware“ im weitesten Sinne, und mit Gleichgesinnten im „Förderkreis Industrie- und Technikgeschichte“ sammelte und deponierte er Rechner und Peripheriegeräte. Leider fand diese Sammlung zuletzt keine Nachfolger, sondern musste, wie auch der FITG, weitgehend aufgelöst werden.
Anders konnte er mit seinem großen eigenen mustergültig aufbereiteten Aktenarchiv verfahren, das dank der Firma D.M.I, Münster, weitgehend bewahrt werden soll. Aus diesem Fundus hat er für seine 2023 erschienene letzte Publikation geschöpft: „Verpasste Chancen. Nachdenken über Fehlentwicklungen der Medizinischen Informatik“. Eine weitere Veröffentlichung über die Entwicklung des IDT hatte er vorbereitet, aber nicht mehr beenden können.
Tief getroffen hat ihn Anfang 2023 der Tod seiner lieben Ehefrau Elke. Seine große Familie mit vier Kindern und acht Enkeln und seine eigene Disziplin halfen ihm, sein Leben weiterzuführen und aktiv zu gestalten.
Mit Wolfgang Giere verlieren wir nicht nur einen Pionier unseres Fachs, sondern auch einen Menschen, der mit Weitblick, Integrität und Menschlichkeit Maßstäbe gesetzt hat. Er hinterlässt Spuren, die weit über die Medizinische Informatik hinausreichen. Es stimmt nicht, dass wir alle ersetzbar sind – große Vorbilder wie Wolfgang Giere und seine engen Weggefährten Joachim Dudeck und Rüdiger Klar bleiben unvergessen und prägen Generationen. Die GMDS erinnert sich seiner in Dankbarkeit.
Prof. Dr. André Scherag, Prof. Dr. Hans-Ulrich Prokosch, Prof. Dr. Andreas J. W. Goldschmidt, Dr. Bernd Graubner, Prof. Dr. Holger Storf
Weitere Informationen enthalten die Homepages von Wolfgang Giere und des FITG sowie die Laudatio zu seinem 80. Geburtstag 2016. Seine letzte Publikation ist hier abrufbar.
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