Jahresberichte

Psychologische Mechanismen des evidenzbasierten Entscheidens

Prof. Dr. Odette Wegwarth, Berlin (Leiterin) 

Tätigkeit vom 1. Januar 2021 bis 31. Dezember 2021

Der Bericht unserer Projektgruppe für das Jahr 2021 lässt sich an, wie sich der aus dem Jahre 2020 verabschiedete. 

Auch im Jahr 2021 blieben zahlreiche Lebensbereiche stark beeinflusst von der COVID-19-Pandemie. So standen die Aktivitäten der Projektgruppe Psychologische Mechanismen des evidenzbasierten Entscheidens zum Beispiel wieder unter dem spürbaren Einfluss einer abermaligen, diesmal 5 Monate währenden Schulschließung und der damit abfließenden Arbeitszeit in das Beschulen eigenen Kinder. Und auch unsere Hoffnungen, als (immer noch) Neuankömmlinge und Quereinsteiger in der GMDS e.V., endlich persönliche Kontakte zu den Mitgliedern der Fachgesellschaft machen zu können, blieben ein weiteres Mal unerfüllt. Unser Symposium „The Psychology of Biometry“ – ursprünglich für Berlin 2020 geplant und dann in Antizipation auf eine analog stattfindende 66. Jahrestagung in Kiel in das Jahr 2021 verschoben – konnte aufgrund der pandemischen Lage schlussendlich erneut nicht analog, sondern nur online stattfinden. Auch wenn das Online-Format nicht unser Traumformat war, wurden wir dennoch belohnt mit der regen Beteiligung einer Vielzahl neugieriger GMDS-Mitglieder, die mit uns im Symposium ihre Begeisterung für das interdisziplinäre Arbeiten, Forschen und Hinterfragen teilten. Einen großen Dank an alle, die an unserer Online-Feuertaufe in der Fachgesellschaft durch diesen inspirierenden Austausch mitgewirkt haben.

Im Jahr 2021 haben wir auch wieder einige spannende Projekte auf den Weg gebracht. So gelang es uns, gemeinsam mit einem interdisziplinären Team aus Epidemiolog*innen, Biometriker*innen, Allgemeinmediziner*innen und Mitgliedern der STIKO erfolgreich das Innovationsfond-Projekt iWILL einzuwerben. In diesem gilt es zu klären, ob der Description-Experience-Gap einen Einfluss auf dasimpfskeptische Verhalten bezogen auf die COVID-19-Impfung hat. Der Description-Experience-Gap beschreibt das Phänomen, dass die Art, wie wir Kenntnis zu Risiken (Wahrscheinlichkeiten) erlangen – entweder durch Erfahrungen oder durch Beschreibung – beeinflusst, ob Menschen das Risiko über-, unter- oder korrekt schätzen. Erfahrungen werden dabei grundsätzlich als reliabler und vertrauenswürdiger eingeschätzt als beschreibungsbasierte Informationen zu Risiken, haben aber das inhärente Problem, dass sie für gewöhnlich auf einer für die tatsächliche Risikoverteilung nicht repräsentativen Stichprobe beruhen. Interaktive Simulationen können Mechanismen des erfahrungsbasierten Lernens insofern nachbilden, indem sie das Auftreten von Risiken als Einzelereignisse, die sich sequentiell kumulieren, dazustellen vermögen. Diese Eigenschaft kann damit potentiell dafür genutzt werden, verzerrte erfahrungsbasierte Risikoeinschätzungen effektiver zu korrigieren als dies mit textbasierten Ansätzen gelänge. Das Projekt iWILL hat zum Ziel, diese Erkenntnisse im Setting vom COVID-19-impfskeptischen Menschen zu nutzen. Dazu entwickelten wir eine interaktive Simulation, welche altersspezifisch den Nutzen und Schaden der COVID-19 Impfung vermittelt. In einer randomisiert-kontrollierten Studie mit über 1.200 impfkritischen Menschen in Deutschland, die zufällig entweder der interaktiven Simulation oder einer textbasierten Information zur Nutzen-Schaden-Ratio zugewiesen wurden, untersuchten wir dann, ob die interaktive Risiko-Edukation mit einer höheren Impfbereitschaft und einer besseren Nutzen-Schaden-Beurteilung der Impfung im Vergleich zur textbasierten Edukation assoziiert war. Über die Ergebnisse werden wir im Tätigkeitsbericht 2022 ausführlich informieren. 

Dass kognitionspsychologische, heuristische Modelle des Entscheidens einen spannenden Ansatz für das Zähmen klinisch komplexer Datensätze bieten, konnten wir in einem Projekt zur Prädiktion des postoperativen Delirs zeigen. In dem interdisziplinären Projekt, bestehend aus Kognitionspsychologinnen, Maschine Learning Experten und Anästhesiologinnen, verglichen wir zwei simple Fast-and-Frugal Trees (FFTree) mit zwei komplexen Modellen—Unconstrained Classification Trees (UDT) and Logistische Regression (LogReg)—hinsichtlich ihrer Fähigkeit, postoperatives Delir anhand von Patient*innen- und Versorgungsdaten vorherzusagen. Die beiden FFTrees übertrafen im postoperativen Setting sowohl den komplexeren UDT-Algorithmus als auch die logistische Regression hinsichtlich einer ausgewogene Vorhersagegenauigkeit (balanced accuracy). Da FFTrees nur wenige binarisierte Cues (Informationseinheiten) zur Prädiktion nutzen, kommen sie neben ihrer Robustheit zusätzlich mit dem Charme, dass ihr Output leicht einprägsam ist und sie Mediziner*innen in der Praxis damit einen von Maschinen und Interfaces unabhängigen schnell verfügbaren Entscheidungsalgorithmus an die Hand geben.

Ref.: Heinrich, M., Woike, J., Spies, C. & Wegwarth, O. (in press). Forecasting postoperative delirium in older adult patients with Fast-and-Frugal decision trees. Journal of Clinical Medicine.

Amtszeit der Leiterin

10. Dezember 2019 bis 10. Dezember 2022